An Stefan George

Hochzuverehrender Meister,
Ich befürchte Euer Kreis, den Jürgen Kolbe einmal sehr treffend als „Edelbohème“ im Gegensatz zur „stubenreinen Bohème“ in Thomas Manns Doktor Faustus charakterisierte, würde diesen kurzen Brief vermutlich unter „belanglos“ einstufen. Sicherlich nicht „enorm“.
Wie kann ich es wagen, mich an euch zu wenden? Nun, ich griff mir kürzlich wieder einmal „Der siebente Ring“ aus dem Regal; zum einen um darin zu lesen, zum anderen um jemand die besondere Typografie zu zeigen. Es ist das erste Buch, das ich von Euch erwarb, verehrter Meister, vor beinahe fünfzig Jahren. Es ist nur die Vierte nicht die erste Ausgabe, aber es war das erste Buch, das ich je auf einer Auerdult erworben habe.

 

München

Aber genug der Vorrede: Meister, ich hänge. Ich schreibe an einer Erzählung, die am letzten Tag eines Seminars zu Euch beginnt, in der ein Professor mit einer jungen Studentin im Hinterhof einer Schwabinger Weinhandlung sitzt und sie ihm gerade gesagt hat: „Sie sind für mich George.“ Ich weiß natürlich, dass das Eurer Meinung nach unmöglich ist, aber dennoch, sie hat es gesagt. Und der gute Professor weiß nicht was er antworten soll.

Ganz zu schweigen von dem armen Autor, dem zumindest ein etwas frivoles Ende vorschwebt. Meister, wie wäre es mit einer Erleuchtung?

Euer demütiger Diener

#stefangeorge #thomasmichaelglaw #mediathougthts #münchen #literatur

An Karl Lagerfeld

Verehrter Lagerfeld,
lieber Karl,

Ich weiß, ihr seid dem vertrauten Ton eher abhold; ich versuche es dennoch, denn ich kenne Euch schon so lange. Als Künstler, Fotograf und Autor passt ihr zudem gut zu den Adressaten, an die ich mich hier gerne Wende.

Der eigentliche Grund für meinen Brief ist ein Buch des Berliner Dramaturgen John von Düffel, der in einem fiktiven Gespräch mit Euch über die Unsterblichkeit nachdenkt. Es war allerdings weniger das esoterische, das mich anzog, sondern Eure Gedanken zur Fotografie.

In Paris

„Wenn alle Fotografen sind, überall, zu jeder Zeit, dann ist keiner Fotograf und nichts Fotografie. Das Fotografieren hat die Fotografie vernichtet“, heißt es da an einer Stelle. Ihr wisst gar nicht, wie Recht ihr habt. Wenn man heute mit so etwas altmodischen, wie einer Kamera, sogar noch einer recht schweren und großen, durch die Straßen der Stadt zieht, erntet man kritische Blicke. Menschen fragen sich: „Was will der denn?“ und dabei denken Sie „Verletzt der etwa mein Recht am Bild.“ Gleichzeitig werden an jeder Straßenecke die Handys zum Fotografieren gezückt und Menschen posieren in den unmöglichsten Posen an den unmöglichsten Orten mit einem insta-gerechten Grinsen.

„Was wir Bilder nennen, sind keine Ansichten von irgendetwas, sondern Übergriffe. Sie legen sich wie ein Schmierfilm über alles. Die Würde des Fotografierten ist ein Gerücht aus der Vergangenheit.“

Mein Eindruck ist, das Fotografen und Fotografierte diese Würde herzlich egal ist, außer der Fotograf oder die Fotografin hält eine professionelle Kamera in der Hand. Dann ist das Ganze äußerst verdächtig. Die Bilder, die vom letzten Spaziergang, dem Sonnen im Garten, von Kaffee und Kuchen mit Mama gepostet werden, sind nicht nur albern, sie sind peinlich. Die Familienbilder meiner Kindheit haben einen gewissen Charme, sogar eine ganz eigene Würde.

Bei den heutigen Fotografien, kann ich mich Ihrem fiktiven Satz nur anschließen: „Um wieder gucken zu können, brauchen wir ein Bildersterben. Ich bitte Gott darum. Doch das wird nicht passieren.

Leider teile ich auch Ihren Pessimismus.

Wie immer mit herzlichen Grüßen.

 

PS.: Ich weiß, dass Haute Couture kein Käse ist

Mehr zu meiner Arbeit als Fotograf

Lots Weib

Er hatte die Frau schon oft gesehen. Er nannte sie »Lots Weib« bei sich, denn so stellte er sich eine Salzsäule vor. Sie trug schwarz, alles war schwarz. Er hatte einmal einen Blick auf ihre Augen geworfen, soweit man sie hinter dem Stoffgitter vor ihrem Gesicht erkennen konnte, und sie waren, zu seinem grenzenlosen Erstaunen, blau.

Männerfantasien - Lots Weib

Sie stand vor ihm an der Kasse des Supermarktes und kaufte, wie meistens, Milch, Jogurt, Obst und Gemüse. An ihrer Seite lief stets ein Mädchen, acht oder neun Jahre alt, mit dem sie nie ein Wort wechselte. Die Kleine nahm die Einkäufe aus dem Wagen, legte sie auf das Band, sammelte sie am Ende wieder ein und steckte sie in eine große, grüne Stofftasche. Anschließend bezahlte sie mit einer Kreditkarte, deren Geheimzahl sie auswendig wusste. Sie zog sie aus der goldenen Hülle eines iPhones, das sich unter ihren Umhang verbarg, der ebenso schwarz war, wie der ihrer Mutter. Mit dem Unterschied, dass man ihre Hände und ihr Gesicht sehen konnte. Sie hatte kleine Hände mit kurzen Fingern und ein rundes Gesicht mit roten Backen, fast wie eine Putte.

Dann passierte es. Als die Frau den Wagen an der Kasse vorbei schob, trat sie mit dem rechten, unter der wallenden Burka verborgenen, Fuß auf den Saum ihres Umhangs. Um nicht zu fallen, stützte sie sich mit beiden Händen auf den Einkaufswagen und streckte, um die Balance zu wahren, ihr linkes Bein ein wenig nach hinten, so dass ihr Fuß einen Augenblick lang unter der Burka hervorschaute.

Mindestens zehn Zentimeter Absatz. Eine rote Sohle. Er schluckte. Die Frau vor ihm, trug Schuhe von Christian Laboutin. Vermutlich erkannten nicht viele Männer das, aber er war Schuhverkäufer und er wusste, was er gesehen hatte. Dieser Schuh. Diese Absätze. Sein Puls schlug stets schneller, wenn er sie an den Beinen schöner Frauen gesehen hatte, so auch jetzt.

Die Frau vor ihm hatte ihr Gleichgewicht wiedergefunden und schob, während er ihr mit den Augen folgte, ihren Wagen in Richtung Ausgang. Seine Fantasie schlug Purzelbäume. Er stellte sich unter dem wallenden, schwarzen Gewand blaue, schwarze oder rote Schuhe mit Strasssteinen vor, Seidenstrümpfe sogar, als die Frau mit ihrer kleinen Begleiterin auf der Rolltreppe abwärts fuhr.

Da fauchte ihn die Kassiererin an: »13,49. Bar oder mit Karte?« Er schloss seinen Mund und öffnete sein Portemonnaie.

Nachwort:
Eigentlich gibt es hier jeden Montag einen Brief an einen bereits verstorbenen Autor. Letzte Woche las ich allerdings, wieder einmal, einiges vom Meister der Kurzgeschichte, Etgar Keret. Sein Blick auf die Welt hat auch diesen kleinen Text inspiriert. (tmg)

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An Yasunari Kawabata

Shin’ainaru Kawabata Yasunari,
Was bringt mich dazu, Euch an einem grauen Montag zu schreiben? Es war ein Zeitungsartikel Ende vorletzter Woche, der mich an Euer Meisterwerk „Die schlafenden Schönen“ erinnerte, das mich vor einigen Jahren auf einem schwierigen Weg begleitete.
Ich fand es nicht mehr. All Eure anderen Bücher, Die Tänzerin von Izu, Schneeland, Tausend Kraniche standen noch im Regal bei den vielen japanischen Kinderbüchern, die ich einst erwarb, um Eure Sprache besser zu lernen. Sie stehen neben dem einen oder anderen Buch, an das ich mit einem Lächeln oder mit einem Stich im Herzen zurückdenke, weil sie Stunden, Tage zurückbringen, die, bei aller Süße, stets einen bitteren Nachgeschmack hinterlassen.
Gebrochene Liebe im Winter
Nur eben dieses Buch, die Geschichte des alten Eguchi, konnte ich nicht finden. Hatte ich es verlegt? Vergessen, wie so manches andere Buch in einem anderen Leben? War es auf einer Bank am Starnberger See liegen geblieben, vom Winde verweht oder hatte es vermocht, jemand anderen zu inspirieren? Ich weiß es nicht.
Es gab eine Zeit, in der mir Gokuroku-ojo sehr nah war. Vielleicht zu nah. In der ich zerbrochen war, wie das Eis auf diesem Bild. Heute greife ich zu Eurem Buch, verehrter Kawabata, mehr als Mahnung zu einfachem aber präzisem Erzählen. Wann immer ich es lese, verstehe ich, warum García Márquez einst großen Neid gegenüber Euch empfand. Eure Prosa führt mir stets vor Augen, wie man Äußerliches wir Innerliches mit minimalistischen Mitteln zu Papier bringen kann.

An Italo Calvino

Caro Calvino,

als ich heute Morgen auf dem Weg in die Badewanne nach einem Buch suchte, das meinen in heißem Wasser eingeweichten Geist wach hielte, sah ich „Se una notte d’inverno un viaggiatore“. Es stand zwischen Gadda und Svevo und Sie, verehrter Meister müssen die Unordnung in meinem Bücherschrank entschuldigen, aber beschränkte Umstände haben ihren Preis und der Abschied von einer alten Liebe kostet nun einmal. Wir müssen uns alle entscheiden. Jeden Tag. Viele Male. Diese Entscheidung war richtig.

Ebenso wie meine Entscheidung Euren grandiosen Roman mit ins Bad zu nehmen, der mich den Rest des Tages von produktiver Arbeit abhielt. Zu Recht möchte man sagen. Rilassati. Raccogliti, Allontana da te ogni altro pensiero. Lascia che il mondo che ti circonda sfumi nell’indistinto, heißt es da auf der ersten Seite. Ich folgte Eurer Verführung weiter, Eurem intelligenten Spiel mit unterschiedlichen Formen des Romans aus dem zwanzigsten Jahrhundert. Es ist schwierig, lieber Italo Calvino, Eure Romane, Essays oder biografischen Notizen aus der Hand zu legen. Sie schauen einen an und scheinen zu sagen „Das meinst du jetzt nicht ernsthaft, oder? Du willst mich doch weiter lesen?“

Wenn ich in Eremita a Parigi schmökere, fällt mir auf, dass uns die gleichen Autoren  faszinieren: Joseph Conrad und Anton Tschechow vor allem. Beide sind große Erzähler, Chronisten menschlichen Elends wie großer Liebe, von denen ich viel gelernt habe, auch wenn ich nur einen von beiden in seiner Muttersprache zu lesen vermag.

Winternacht.
Wann immer ich in den letzten Jahrzehnten zur Winterzeit in Rom war, sah ich diese Vogelschwärme. Es war, als ob sie meine Gedanken mit sich fortreißen wollten. Oder malten sie einfach nur Bilder in den Himmel?

Aus vielen Eurer Bücher spricht, neben allem Absurdem, auch Hoffnung, lieber Calvino. Es wird auch dieses Mal gut gehen – egal was die Propheten des Untergangs uns verkünden.

Danke für Eure Bücher,
in tiefer Verbundenheit
Thomas Michael Glaw

#thomasmichaelglaw #mediathoughtsverlag #literatur #calvino #Italien

An Octavio Paz

Lieber Octavio Paz,

es ist mehr als dreißig Jahre her, dass ich in Eurer Heimat Mexico war. Das Land hat sich verändert. Es ist gewalttätiger geworden, Korruption und Kapitalismus halten einander die Hand, die Schönheit der Kultur, die Freundlichkeit der Menschen, eine grandiose Küche – das sei mir als Koch erlaubt zu sagen – verschwindet im Staub.

Euer Werk begleitet mich seit Jahrzehnten und war mir einst, gemeinsam mit Carlos Fuentes Roman La región más transparente ein Schlüssel zum Verständnis Mexicos. Ich weiß, Euer Essay El laberinto de la soledad gilt als ebenso wichtig, mich hat jedoch das Bild des Lichtes, jenes durchscheinenden Lichtes, dass man außerhalb des Smogs von Mexico Ciudad noch wahrnehmen kann, in den Bann gezogen. Ich fand es wieder in einem Vers Eures Gedichtes En Uxmal:

La hora es transparente:
vemos, si es invisible el pájaro,
el color de su canto.

Die Suche nach der Farbe des Gesanges, die Suche nach der Farbe von Musik fasziniert mich. Manche Menschen haben die Gabe der Synästhesie: sie können Töne als Farben wahrnehmen. Mir ist das nicht gegeben und doch verbinde ich Töne oft mit Farben und Bildern.

Der unsichtbare Vogel stellt für mich ein Sinnbild dar, für das, was ihr unserem von Rationalismus und dem vermeintlichen Bemühen Entwicklungen mit Hilfe von Verboten und Regeln zu verhindern entgegenstellt: Die Poesie.  Ihr seht in ihr die Chance eines Gegenentwurfs zu unserer beschränkten Sichtweise der Welt.

Kommend von einem Mann wie euch, verehrter Octavio Paz, einem umfassend gebildeten Polyhistor, macht es mir Mut weiter meinen eigenen Weg zu gehen und den Unsinn, der in den letzten Jahren main stream geworden ist, zu ignorieren.

Gracias.

#thomasmichaelglaw #poesie #mexico #octaviopaz #mediathoughtsverlag #literatur

Mehr über mich auf www.thomasmichaelglaw.com

An Hilde Domin

Liebe Hilde Domin,
Wir hätten uns beinahe einmal kennengelernt. Doch wirklich. Vor mehr als 20 Jahren. Mein Doktorvater hat Sie für »Literatur in Bayern« besucht und wollte mich als Fotograf dabeihaben. Am Ende begleitete ihn dann doch wieder eine Assistentin. Ich hätte Sie gerne fotografisch porträtiert. Die Tiefe Ihrer Gedichte in Ihren Augen gesucht und die Wahrheiten in den Linien Ihres Gesichts.
Ihre Worte, Ihre Gedanken begleiten mich, wie die Wisława Szymborskas, seit langem. So lange man noch reisen konnte, auch auf den Wegen zu Fremden und Freunden, zu Unbekanntem und allzu Bekanntem.
»Man muss weggehen können
und doch sein wie ein Baum
als bliebe die Wurzel im Boden,
als zöge die Landschaft und wir ständen fest.«
Es ist die innewohnende Liebe, die ich in Ihren Gedichten spüre.
Warum ich Ihnen gerade heute schreibe?
Weil ich vor einigen Jahren an genau diesem Tag beinahe eine Riesendummheit begangen hätte und mich ein Engel davor bewahrte. Dafür bin ich dankbar.
Glauben Sie an Engel?
»Man muss den Atem anhalten,
bis der Wind nachlässt
Und die fremde Luft um uns zu kreisen beginnt,
bis das Spiel von Licht und Schatten,
von Grün und Blau,
die alten Muster zeigt
Und wir zuhause sind,

wo Immer es auch sei

…«

Dieser Engel steht mir immer noch zu Seite und heute ist ein guter Tag, sich daran zu erinnern.
Herzlichst,
Thomas Michael Glaw
PS.: Sie wundern sich über das Bild? Das Licht des Bodensees ist besonders und es erinnert mich an eine glückliche Woche in einem alten Fachwerkhaus, während ich einen Roman beendete.

An Thomas Mann

München - Siegestor

Verehrter Thomas Mann,
lieber Zauberer,

in diesen Tagen, schwankend zwischen abstumpfender Langeweile und hektischer Betriebsamkeit, greife ich immer wieder einmal zu Euren Romanen und Erzählungen. Es ist vor allem der Zauberberg, der es mir seit Jahrzehnten angetan hat und zu dessen wunderbar eingängigen Persönlichkeiten ich immer wieder zurückkehre.

Auch Gladius Dei, jene Novelle, der die Stadt München das so werbewirksam vermarktete Prädikat „München leuchtet“ entnahm, lässt einen Wahlmünchner wie mich nicht unberührt. Ich weiß natürlich, verehrter Zauberer, dass Ihr damit ein ironisches Bild auf den Kunstbetrieb im Allgemeinen, vor allem im München an der Schwelle zum 20. Jahrhundert entworfen habt. In der heutigen Zeit erinnert mich Euer Hieronymus nicht mehr so sehr an Girolamo Savonarola, mit dem er mehr als nur den Vornamen teilt, sondern eher an die vielen Bußprediger, die das Internet, vor allem auf Deutsch, bevölkern.

Darf ich Euch eine Anekdote aus dem Berlin der 1920er Jahre erzählen? Als Monty Jacobs das Feuilleton der Vossischen Zeitung übernahm, drehte er sich nach der ersten Besprechung mit seinen Redakteuren an der Türe noch einmal um und sagte: „Und noch eins, meine Herren! Hierzulande Ironie cursiv!“

Wir mögen eine Woche der Meinungsfreiheit haben, eine nicht geringe Zahl von Leuten billigt diese Freiheit nur noch denjenigen zu, die ihre, als politisch korrekt erkannte, eigene Meinung bestätigen. Unsere Volksvertreter hingegen scheinen eher Eure „Betrachtungen eines Unpolitischen“ im Bücherschrank zu haben. «Ich will nicht Politik. Ich will Sachlichkeit, Ordnung, Anstand… Ich bekenne mich tief überzeugt, … daß der vielverschriene deutsche ‚Obrigkeitsstaat‘ die dem deutschen Volk angemessene, zukömmliche und von ihm im Grunde gewollte Staatsform ist und bleibt…», schriebt Ihr. Ihr werdet verstehen, verehrter Zauberer, dass ich Euch da nicht folgen kann. So mancher Politiker der Jetztzeit hingegen schon.

Ich halte es da, ehrlich gesagt, eher mit Eurem Bruder Heinrich, von dem ich letzte Woche einige schöne antiquarische Werke erwarb: „Geist ist Tat, die für den Menschen geschieht; – und so sei der Politiker Geist, und der Geistige handle!“

In diesem Sinne
Ihr
Thomas Michael Glaw

#thomasmichaelglaw #montagsblog #mediathoughtsverlag #ThomasMann

An Karl Marx

Lieber Marx,

hätten Sie gedacht, dass einmal jemand eine solche Straße nach Ihnen benennen würde? Vermutlich nicht. Eigentlich wurde sie auch nach einem Georgier namens Dschugaschwili, den wir heute eher unter seinem Kampfnamen Stalin kennen, benannt. Einem Mann, der Millionen Menschen auf dem Gewissen hat, darunter nicht wenige deutsche Kriegsgefangene.

Aber ich schreibe Ihnen nicht, um mich auf ein Gespräch zur Architekturkritik einzulassen. Sie waren ein umfassend gebildeter Mann, lieber Marx, sicherlich könnte ein solches Gespräch, wenn man Ihre heutige Position betrachtet, überaus interessant sein. Wieso ich diese Woche ausgerechnet auf Sie komme? Ich habe wieder einmal einen Blick auf das kommunistische Manifest geworfen. Ihr Meisterwerk, „Das Kapital“ muss ich bei Gelegenheit neu erwerben, denn ich ließ es vor ein paar Jahren in der Pampa zurück, wo es zwar keiner je lesen wird, es sich aber sicher überaus dekorativ in dunkelblau und gold im Bücherschrank macht.

Wissen Sie, lieber Marx, mir macht die Linke Sorgen. Sie meinen, ich, als Liberaler, sollte doch eher froh über ihren desolaten Zustand sein? Sie missverstehen mich, verehrter Meister. Ich bin in der Tat kein Freund staatlicher Übergriffigkeit, wie es das bayerische boy-wonder gerade demonstriert. Ich glaube an das Selbstbestimmungsrecht des Menschen, an „life, liberty and the pursuit of happiness“, wie es sich die Amerikaner in ihre Unabhängigkeitserklärung hineingeschrieben haben. Allerdings bin ich auch davon überzeugt, dass wir als Gesellschaft die Aufgabe haben, die Schwachen zu stützen, Chancengleichheit herzustellen und vor allen Dingen jedem (und jeder, in diesen gegenderten Zeiten) den Zugang zu Bildung nicht nur zu ermöglichen, sondern sie oder ihn auch dabei zu unterstützen.

Und was tun Ihre Jünger, lieber Marx?

Sie kümmern sich um Fragen des Lebensstils, der Konsumgewohnheiten und verteilen moralische Haltungsnoten. Fleiß, Leistung und Anstrengung sind eher uncool. Natürlich ist eine diskriminierungsfreie Welt ein hehres Ziel, nur geht das für die meisten Leute über Löhne, Renten und die Arbeitslosenversicherung und nicht über sprachlich fragwürdige Vehikel. Wenn ich lese, dass Ihre heutigen Gesinnungsgenossen meine Ehefrau als „cis-Frau“ bezeichnen, weil sie keine Transsexuelle ist, geht mir die Baskenmütze hoch, wenn Sie mir diese etwas abgedroschene Metapher verzeihen. Einmal davon abgesehen, dass ich Cis Dur schon wegen der sieben Kreuze nie sonderlich mochte.

Sagen Sie, lieber Marx, könnten Sie nicht etwas unternehmen aus Ihrer höheren Warte? Schicken Sie doch ein paar unserer Life Style Linken aus München mal nach Gelsenkirchen oder in bestimmte Stadtteile von Dortmund. Nein, lassen Sie es lieber. Die müssten dann, trotz Corona, schnell einen Wellness Meditationsurlaub auf den Seychellen einlegen. Und natürlich würden sie ein paar Euro für den Co2 Ausgleich ihres Business Class Fluges abdrücken.

Die Revolution hat schon immer ihre Kinder gefressen. Das fatale an den heutigen Revolutionären ist, dass sie am liebsten auf Kosten anderer speisen.

In diesem Sinne,
Ihr
Thomas Michael Glaw

PS.: Wie ist denn so das Manna heutzutage 🙂 Für eine Maß müßten’s halt … Ich bin sicher die bayerische Staatsregierung hätte auch heute noch den einen oder anderen guten Ratschlag bitter nötig.

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An Giovannino Guareschi

Lieber Guareschi,

Ai Wei Wei schrieb vor einigen Wochen, Spaghetti und die Pandemie hätten eines gemeinsam: die Chinesen hätte sie erfunden und die Italiener verbreitet.

Ich verstehe durchaus, dass diese Aussage nicht Euren Beifall findet.

Wann immer ich auf einen Teller Pasta blicke, werde ich an die „mondo piccolo“ erinnert, jene kleine Welt, in der Ihre Geschichten spielen. Ich habe Ihre Hauptprotagonisten vor Augen, den Pfarrer Don Camillo und den Kommunisten Giuseppe Botazzi, genannt Peppone. Ich gestehe, dass die filmische Version mein eigenes Bild Ihrer Romane überlagert, so wie ich sie in „Don Camillo e i giovani d’oggi,“ einem der ersten Bücher, das ich auf Italienisch las, kennenlernte. Es folgten viele andere Autoren, Eure Gestalten, lieber Guareschi, begleiteten mich jedoch ein Leben lang.

Eure kleine Welt deckt sich in vieler Hinsicht mit meiner. Die meisten Morde passieren im familiären Umfeld – selbst wenn wir die Schwiegermütter herausrechnen. In meinen Romanen wurden, zumindest bislang, keine Schwiegermütter ermordet, zumal ich eine der besten erwischt habe, die gerade verfügbar waren.

Nach Max Weber liegen die Herausforderungen der kommenden Jahre in Kapitalismus, Individualismus und Demokratie. Er hat Recht, lieber Guareschi, auch wenn man heute mehr über ihn redet und ihn kaum mehr einer liest. Cancel Culture, Safe Spaces, und dass man Menschen zum Schweigen bringen will, weil sie etwas zu sagen haben, das man nicht hören will, sind auch Ausdruck dieser Herausforderungen. Leider dringt all das auch vermehrt in unsere kleinen Welten ein.

Pasta auf dem Teller eines hungrigen Priesters, eines hungrigen Bürgermeisters. Rotwein in einem kleinen Glas. Beide versuchen, die Welt, ihre kleine Welt, ein wenig besser zu machen. Ich koche immer noch gerne Pasta. Tagliatelle al Ragu alla Bolognese gehört zu meinen Spezialitäten und zu meinen Lieblingsessen am „Pasta Montag“. Heute jedoch gibt es Spaghetti alla Carbonara. Zumindest im Geiste werden Peppone und Don Camillo mit am Tisch sitzen.

Saluti!

#thomasmichaelglaw #literatur #montagsblog #mediathoughts