Venedig

„So ist Venedig, die Schöne, schmeichelnd und verdächtig, Legende und Falle für die Fremden“, schrieb Thomas Manns in seiner Novelle „Tod in Venedig“, die 1911 erschien. Was trieb uns diesem August nach Venedig? Die Suche nach Bildern aus der heutigen venezianischen Realität und die Suche nach Wegen, Gebäuden, Szenen, Menschen, Gerüchen und Impressionen für den neuen Benedict Schönheit Roman „Venezianische Impressionen“, den im Februar 2022 erscheint.

Zum einen: Wir waren zu spät. Die Touristen waren schon da. Alle.

Man kann das ganz gut umgehen, wenn man sich in dem Labyrinth Venedig ein wenig auskennt, trotzdem nervt es, selbst wenn man eine Wohnung etwas abseits ergattert hat. Ich wollte unbedingt einmal im Ghetto Vecchio bleiben, das nicht, wie der Name suggeriert, der älteste Teil des Ghettos ist. Ich hatte in den zwei Jahren Covid wohl vergessen, was Ferienwohnungen in Italien, im Gegensatz zum Rest Europas, bedeuten. Sie stellen eine Mischung aus verfallendem Ikea, dem Erbe von Zia Maria und Krempel vom Flohmarkt da. Gott sei Dank hatte ich wenigstens meine Küchenmesser eingepackt.

Das spannende an der „location“, wie es auf Neu-Deutsch heißt, war, dass die kleine Wohnung direkt neben der noch existierenden Synagoge lag. Wir hörten also am Freitagabend das shabbat shalom beim Abendessen in dem kleinen Innenhof.

Wenn es gelingt mit Menschen ins Gespräch zu kommen, spürt man eine gewisse Erleichterung, dass die Normalität zurückkehrt, gemischt mit einer Resignation, dass nichts mehr so wird, wie es einmal war. Nach unserer Rückkehr habe ich ein wenig im Peterich geschmökert und die ersten unserer Bilder bearbeitet. Manche repräsentieren, vor allem in schwarz weiß, eine vergangene Zeit. Doch, ich teile die Bedenken der Kellner, des pesche vendolo und der jungen Frau an der Supermarktkasse. Manchmal glaube ich Italien ist dabei, seine Seele zu verkaufen. Andererseits: machen das die Italiener nicht schon seit ein paar hundert Jahren und das Land ist immer noch wunderschön und das Essen wunderbar (einmal abgesehen von den Touristenlokalen)?

An Italo Calvino

Caro Calvino,

als ich heute Morgen auf dem Weg in die Badewanne nach einem Buch suchte, das meinen in heißem Wasser eingeweichten Geist wach hielte, sah ich „Se una notte d’inverno un viaggiatore“. Es stand zwischen Gadda und Svevo und Sie, verehrter Meister müssen die Unordnung in meinem Bücherschrank entschuldigen, aber beschränkte Umstände haben ihren Preis und der Abschied von einer alten Liebe kostet nun einmal. Wir müssen uns alle entscheiden. Jeden Tag. Viele Male. Diese Entscheidung war richtig.

Ebenso wie meine Entscheidung Euren grandiosen Roman mit ins Bad zu nehmen, der mich den Rest des Tages von produktiver Arbeit abhielt. Zu Recht möchte man sagen. Rilassati. Raccogliti, Allontana da te ogni altro pensiero. Lascia che il mondo che ti circonda sfumi nell’indistinto, heißt es da auf der ersten Seite. Ich folgte Eurer Verführung weiter, Eurem intelligenten Spiel mit unterschiedlichen Formen des Romans aus dem zwanzigsten Jahrhundert. Es ist schwierig, lieber Italo Calvino, Eure Romane, Essays oder biografischen Notizen aus der Hand zu legen. Sie schauen einen an und scheinen zu sagen „Das meinst du jetzt nicht ernsthaft, oder? Du willst mich doch weiter lesen?“

Wenn ich in Eremita a Parigi schmökere, fällt mir auf, dass uns die gleichen Autoren  faszinieren: Joseph Conrad und Anton Tschechow vor allem. Beide sind große Erzähler, Chronisten menschlichen Elends wie großer Liebe, von denen ich viel gelernt habe, auch wenn ich nur einen von beiden in seiner Muttersprache zu lesen vermag.

Winternacht.
Wann immer ich in den letzten Jahrzehnten zur Winterzeit in Rom war, sah ich diese Vogelschwärme. Es war, als ob sie meine Gedanken mit sich fortreißen wollten. Oder malten sie einfach nur Bilder in den Himmel?

Aus vielen Eurer Bücher spricht, neben allem Absurdem, auch Hoffnung, lieber Calvino. Es wird auch dieses Mal gut gehen – egal was die Propheten des Untergangs uns verkünden.

Danke für Eure Bücher,
in tiefer Verbundenheit
Thomas Michael Glaw

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