E. B. White und ich haben vor allen Dingen eins gemeinsam: unser Geburtsdatum. Er wäre dieses Jahr am 11. Juli 121 Jahre alt geworden, ich bewege mich auf den Unruhestand zu.
Die meisten von Ihnen, zumindest unter meinen englischsprachigen Lesern, werden Elwyn Brooks White als Autor von Kinderbüchern wie „Charlotte’s Web“, „Stuart Little“ oder „The Trumpet oft he Swan“ kennen. Er ist jedoch auch Co-Autor eines DER Style Guides der englischen Sprache „The Elements of Style“, das jahrzehntelang auf meinem Schreibtisch stand.
Es sind vor allem die kleinen Geschichten, Essays und Vignetten, die er zwischen 1927 und 1976 für den New Yorker verfasst hat, die mich immer wieder zu ihm als Schriftsteller zurückkommen lassen. Zugleich ermahnen sie jeden Schreibenden, seinen Blick für das Alltägliche zu schärfen und Beobachtungen feuilletonistisch mit den Lesern zu teilen.
Es zeigt mir auch, wie wenig ich in den letzten anderthalb Jahren in der Stadt unterwegs war, wie ängstlich die Menschen immer noch sind, ihre Bewegungen befangen, ihre Blicke umherschweifend. Als ich letzten Samstag in einem halbleeren Einkaufszentrum eine Hose kaufte, unterhielten sich die Verkäuferinnen darüber, wie voll alles schon wieder sei. Im Gespräch wurde klar, dass sie vor allem eines ersehnten: klare Informationen und eindeutige Aussagen. Ich gebe zu: Manchmal habe auch ich Angst, dass uns diese Masken bleiben, bis wir das griechische Alphabet durchbuchstabiert haben. Ich würde Menschen gerne wieder lächeln sehen – und nicht nur an meinem Esstisch.
Vielleicht fallen mir dann wieder Geschichten wie die von E. B. White’s Spatz ein, der eine zur Schleife gebundene Luftschlange findet und damit vor den anderen Spatzen posiert, bis er merkt, dass er für den frühen Morgen eigentlich „overdressed“ ist, die Luftschlange fallen lässt und in den nächsten Saloon fliegt. Ich könnte auch Markus Söder mit an den Walden Pond nehmen – Elwyn White hat über einen fiktiven, gemeinsamen Besuch mit Senator McCarthy einen herrlichen Text verfasst.
Seine Beobachtungsgabe, sein Sprachgefühl und sein Gespür für gesellschaftliche Zusammenhänge – immer mit einer wohldosierten Prise Humor gewürzt – fehlen in diesen aufgeheizten Zeiten, in denen man mehr und mehr nach dem Motto „Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag ich dir den Schädel ein“ zu verfahren scheint. Gott sei Dank bleibt es meistens bei verbalen Schlägen. Es nervt trotzdem und vertieft die Gräben zwischen denen, die diese Auseinandersetzungen führen. Interessanterweise beteiligen sich weder „meine“ Auszubildenden noch „meine“ dualen Studenten an diesem Rennen um die absolute Wahrheit. Sie schütteln nur mit dem Kopf.
Aber zurück zu Elwyn White. Ich bin sicher, er sitzt seit 1985 auf irgendeiner Wolke und schreibt zum Ergötzen dessen (oder deren – Vorsicht Thomas!), der unsere Geschicke lenkt, weiter seine wunderbaren Geschichten.
In diesem Sinne nicht „RIP“, sondern „Carry on!“
Wer die Geschichten gerne selber lesen will sollte ein paar Euro in E. B. White: Writings from The New Yorker 1927 – 1976 investieren. Erschienen bei Harper Perennial.